Heute schon einen Baum gepflanzt?

Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Bäumchen pflanzen.

Dieser Satz, der Martin Luther (1483-1546) zugeschrieben wird, steckt in der Titelfrage. Die meisten haben dies gewiss erkannt. Auf Platz zwei meiner internen Titelhitparade stand: «Heute ist ein geschenkter Tag.» Allerdings ist in diesem Titel der Vater des Gedanken weniger offensichtlich. Der französische Philosoph Michel de Montaigne (1533–1592) betrachtete jeden Tag nach dem 35. (!) Geburtstag als Geschenk. Aufmerksame Leserinnen und Leser mögen sich erinnern. Diesen Gedanken verwendete ich schon vor Jahresfrist in diesem Editorial. Den Hinweis dazu verdanke ich der Schweizer Philosophin Ursula Renz (1967), welche uns im Mai 2020 mit philosophischen Überlegungen auf die neue Zeit einstimmte.

Es gibt keine verlorene Zeit

Es ist kein Zufall, dass ich Montaigne erneut zitiere. Aus den Erfahrungen der letzten anderthalb Jahre will ich vor allem tiefe Dankbarkeit für das Leben schlechthin behalten und in die weitere Zukunft mitnehmen. Es gibt keine verlorene Zeit. Jede Zeit ist unsere, ist meine Zeit. Das Leben ist ein Geschenk. Wie gehe ich damit um? Was mache ich damit? Mache ich genug damit? Und vor allem: Machen wir genug damit?

Ich halte persönliches Vertrauen, persönlichen Optimismus, persönlichen Glauben an die Zukunft für überlebenswichtig. Auch wenn “es” eines Tages vorbei sein wird, wird es nicht mehr so sein wie früher. Das ökologische und ökonomische Ungleichgewicht wird weiter eskalieren, Pandemie hin oder her. Denn, Hand aufs Herz, wir tun so gut wie nichts dagegen. Nahezu alle politischen Entscheidungen beruhen auf einem kurzfristigen Nutzen-Denken und gehen damit auf Kosten der Jugend. Und obwohl es in der veröffentlichten Meinungen so gut wie übergangen wird, hat die (wirtschaftliche und industrielle) Abkopplung der östlichen von der westlichen Welt begonnen und ist – zumindest zu unseren Lebzeiten – ein wahrscheinlich unumkehrbarer Prozess. Was immer das auch bedeuten mag, es verheisst nichts Gutes.

«Alles muss sich ändern …

Was jetzt? «Alles muss sich ändern, damit es bleibt, wie es ist.» Diese Lebensweisheit legte der italienische Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896-1957) einem italienischen Adeligen in seinem berühmtesten Roman, Il Gattopardo, in den Mund. Ein Zitat mehr, das vor allem eines belegt: «Es gibt nichts Neues unter der Sonne.» Diesmal sogar ein Zitat aus dem Alten Testament, genauer: Aus dem Buch der Weisheit. Der Satz findet sich auch in ägyptischen und mesopotamischen Weisheitsbüchern.

Nur am Rande sei zwischendurch angefügt: Ich halte es für einen Trugschluss, heute würde sich die Welt schneller verändern oder drehen als früher. Jede Zeit glaubt und glaubte das von sich. Deshalb ein letztes Zitat, diesmal vom deutschen Theologen und Philosophen Nikolaus von Kues (1401-1464): «Nur wer sich nicht bewegt, erkennt Bewegung.» Er bezog diese bahnbrechende Erkenntnis auf die Achsendrehung der Erde. Gilt dies nicht für Veränderung schlechthin?

Diese Zitate unterstreichen und bekräftigen, dass wir nicht die erste Generation sind, welche unfreiwilligen Veränderungen ausgesetzt ist. Zu allen Zeiten stellte die Frage nach dem Umgang mit Veränderung eine sinnstiftende und grundlegende Beschäftigung dar. Und dass Veränderungen zunächst Ängste auslösen, ist ebenfalls eine alte Erfahrung.

… damit es bleibt, wie es ist.»

Als Präsident der VCU Zürich stelle ich mit Dankbarkeit und mit Genugtuung fest, dass unsere Institution ein Ort ist, wo wir (ich betone: wir) mit der Zeit gehen. 2020 haben wir mehr Veranstaltungen denn je durchgeführt, neue Gefässe ausprobiert und den Schwung mit ins Jahr 2021 genommen.

In diesem Newsletter finden Sie Berichte über den ersten gemeinsam von Swisshand und VCU durchgeführten Spendenlauf vom 12. bis 20. Juni 2021. Ich persönlich bin in an drei Abenden einmal rund um den Greifensee spaziert. Nie fehlte es an spannenden und anregenden Gesprächen mit Mitgliedern und Freunden der VCU Zürich (siehe Seite xx). Ich bin dankbar für diese drei Abende.

In bester Erinnerung habe ich auch das 24h-TimeOut, das wir anfangs Oktober 2021 erneut durchführen (Seite xx). Eine Initiative, die wir ebenfalls fortsetzen wollen sind die VCU-Debattenabende, die wir etwa zweimal jährlich im Vorfeld eidgenössischer Abstimmungen als Beitrag zu einer gepflegten Diskussionskultur durchführen wollen (Seite xx). Es erstaunt mich nicht, dass es uns deshalb gelungen ist, sogar einen leichten Zuwachs an Neumitgliedern zu erzielen.

«Heute war ein geschenkter Tag.»

Seit vielen Jahren ist mein erster Gedanke am Morgen: Worauf freue ich mich heute? Es ist eine ausgezeichnete Übung, positiv zu denken und mit einem guten Boden in den Tag zu starten. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung der jüngeren Zeit habe ich mir vorgenommen, nun jeden Abend vor dem Einschlafen daran zu denken, dass der heutige Tag ein geschenkter Tag war. Was habe ich damit gemacht? Bin ich dem Geschenk gerecht geworden?

Ich muss gestehen, dass ich noch etwas üben muss. Aber wie ich kürzlich in einem Managementseminar lernte: Wir müssen etwas Neues über 60 Mal bewusst (!) machen, bevor wir es automatisch tun. Immerhin habe ich eine kleine Hilfe. An Tagen mit einem VCU-Anlass, mache ich mir um die Antwort zu dieser Frage keine Sorge. Denn, lieber Giuseppe Tomasi, an diesen Tagen bin ich im Kreis kluger und reflektierter Menschen, die manchmal heftiger, manchmal unaufgeregter, nicht nur über das Leben sprechen, sondern mit kleinen, konkreten Schritten Neues wagen und umsetzen. Tragen wir weiterhin Sorge dazu.

Heute schon einen Baum gepflanzt? 😊

 

Dr. Roland Gröbli

Präsident VCU Regionalgruppe Zürich

 

Kleiner Nachtrag. Zu meiner Ferienlektüre zählte in diesem Jahr die Biografie von Gisela Kleine über Ninon Hesse-Ausländer (1895-1966), die Ehefrau von Hermann Hesse(1877-1962). Der grosse Schriftsteller, so las ich darin, sei im Alter nicht lebensfroher, sondern lebensdankbarer geworden.

 

Bei diesem Text handelt es sich um das Editorial zum VCU Newsletter August 2021. Ich lade Sie herzlich ein, diesen und weitere Newsletter auf der Webseite der VCU Schweiz (www.vcu.ch) aufzusuchen, herunterzuladen und zu lesen.

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